Tuesday, November 18, 2025
Die Vergaberevolution in NRW: Was § 75a GO NRW für Ihr Unternehmen bedeutet

Am 1. Januar 2026 setzt Nordrhein-Westfalen die radikalste kommunale Vergabereform in der deutschen Geschichte um. § 75a GO NRW beseitigt alle landesweiten Wertgrenzen und verpflichtenden Verfahrensregeln unterhalb der EU-Schwellenwerte. Jahrzehntelange detaillierte Regelungen werden durch fünf abstrakte Prinzipien ersetzt. Dieses „Experiment mit offenem Ausgang" schafft sowohl beispiellose Chancen als auch beträchtliche Unsicherheiten für Unternehmen, die an kommunalen Vergaben teilnehmen.
Der grundlegende Wandel von Regeln zu Prinzipien
§ 75a GO NRW, verabschiedet am 10. Juli 2025, markiert das, was Rechtsexperten einhellig als bewussten „Systemwechsel" beschreiben. Die Vorschrift setzt explizit „auf Null zurück" alle bisherigen kommunalen Vergabevorschriften. Sie eliminiert die verpflichtende Anwendung der UVgO (Unterschwellenvergabeordnung) für Liefer- und Dienstleistungen sowie VOB/A Abschnitt 1 für Bauleistungen.
Stattdessen müssen Kommunen alle Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte nach nur fünf verbindlichen Prinzipien durchführen: Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Sparsamkeit, Transparenz und Gleichbehandlung.
Dies stellt eine fundamentale Abkehr vom traditionellen deutschen Verwaltungsrecht dar. Bisher schrieben detaillierte bundesrechtliche Regelungen spezifische Verfahren, Wertgrenzen, Dokumentationsanforderungen und Fristen für jede Vergabe vor. Unter dem neuen Rahmenwerk verschwinden diese Regeln, ersetzt durch verfassungsrechtliche Prinzipien, abgeleitet aus Art. 3 GG (Gleichbehandlung) und § 75 GO NRW (Haushaltsdisziplin).
Dr. Christian Teuber von Baker Tilly charakterisiert dies im einflussreichen vergabeblog.de vom 16. Oktober 2025 als „ein Experiment mit offenem Ausgang".
Der zweite Absatz des Gesetzes gewährt den Kommunen vollständige Autonomie zur Verabschiedung von Vergabevorschriften durch formelle Satzung. Entscheidend ist: Solche Satzungen sind optional, nicht verpflichtend. Kommunen können wählen, ob sie die von den kommunalen Spitzenverbänden entwickelte Mustersatzung übernehmen, völlig eigene Regelungen schaffen oder ohne jede Satzung arbeiten – sich allein auf die abstrakten Prinzipien des § 75a stützend.
Dies schafft Potenzial für bis zu 396 verschiedene Vergaberegime in den NRW-Kommunen und transformiert die Vergabelandschaft grundlegend.
Aktuelle EU-Schwellenwerte, die verbindlich bleiben:
- 221.000 € netto für Liefer- und Dienstleistungen
- 5.538.000 € netto für Bauleistungen
- 750.000 € netto für besondere und soziale Dienstleistungen
Oberhalb dieser Schwellenwerte gelten weiterhin unverändert die vollständigen GWB Teil 4 und VgV-Verfahren.
Was sich konkret ändert: Vorher-Nachher-Vergleich
Die Transformation wird durch direkten Vergleich deutlich. Bis zum 31. Dezember 2025 arbeiten Kommunen unter § 26 Kommunalhaushaltsverordnung NRW (KomHVO NRW), der die strikte Anwendung von UVgO und VOB/A mit klar definierten Landeswertgrenzen vorschreibt.
Ein Ministerialer Runderlass (MHKBD), zuletzt geändert am 26. November 2024, schreibt vor:
- Verpflichtende öffentliche Ausschreibung als Standardverfahren
- Eingeschränkte Mindestfristenregelungen
- Umfassende Dokumentationsanforderungen gemäß UVgO § 6 und VOB/A § 20
- Spezifische Wertgrenzen für Direktvergaben, typischerweise zwischen 5.000 € und 25.000 €
Ab dem 1. Januar 2026 verschwindet dieser gesamte Rahmen:
- Keine verpflichtenden Verfahren – Kommunen wählen frei zwischen öffentlicher Ausschreibung, beschränkter Ausschreibung, Verhandlungsvergabe oder Direktvergabe ohne vorgeschriebene Hierarchie
- Keine staatlich definierten Wertgrenzen – jede Kommune bestimmt ihre eigenen Grenzen für Direktvergaben, falls überhaupt
- Reduzierte Dokumentation – allgemeine Anforderungen in „Textform" ohne detaillierte Spezifikationen
- Optionale Verfahrensarten statt verpflichtend
- Vollständiger Ermessensspielraum bei der Anpassung der Vergabe an lokale Bedürfnisse
Die Gesetzgebungsabsicht, wie in Landtag NRW Drucksache 18/13836 dargelegt, zielt explizit darauf ab, NRW-Kommunen dieselbe Vergabefreiheit zu gewähren, die ihre mehrheitlich gehaltenen Tochtergesellschaften genießen. Dies adressiert eine lang bestehende Wettbewerbsverzerrung, bei der kommunale Unternehmen flexibler beschaffen konnten als die Kommunen selbst.
Die Vergabestatistik 2023 illustriert das Ausmaß der Änderung: NRW-Kommunen initiierten 23.587 Vergabeverfahren, davon 21.488 (91 %) unterhalb der Schwellenwerte, die 47,3 % der Gesamtauftragswerte repräsentieren. Die Reform zielt genau auf diesen hochvolumigen, verwaltungsintensiven Sektor.
Die Mustersatzung: Werkzeugkasten der Kommunen für die Umsetzung
In Anerkennung dessen, dass viele Kommunen Orientierung für diesen beispiellosen Übergang benötigen, entwickelten drei kommunale Spitzenverbände – Städtetag NRW, Landkreistag NRW und Städte- und Gemeindebund NRW – gemeinsam eine Mustersatzung. Sie wurde am 5. September 2025 beim 18. Nordrhein-Westfälischen E-Vergabetag vorgestellt. Die Mustersatzung beschreibt sich explizit als „eine Möglichkeit" zur Umsetzung des § 75a, nicht als verbindliche Vorlage.
Die Mustersatzung umfasst 15 Paragraphen, systematisch organisiert:
§ 1 definiert Geltungsbereich und Anwendung für Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte. Er schließt explizit Eigenbetriebe und mehrheitlich kontrollierte juristische Personen aus.
§ 2 adressiert Auftragsarten – Bau-, Liefer- und Dienstleistungen. Er verwendet vertraute UVgO/VOB/A-Terminologie, stellt aber klar, dass diese nicht mehr verbindlich sind, außer durch Satzung übernommen.
§ 3 kodifiziert die fünf § 75a-Prinzipien und fügt wichtige Anforderungen hinzu:
- Rotation unter Bietern (Anti-Korruptions-Maßnahme)
- Verbot geografischer Beschränkungen
- Verpflichtende Bewertung grenzüberschreitenden Interesses (Binnenmarktrelevanz)
§ 4 etabliert Dokumentationsstandards. Er fordert „fortlaufende Dokumentation in Textform" (kontinuierliche Dokumentation gemäß § 126b BGB) mit dreijähriger Aufbewahrungsfrist. Die Inhaltsspezifikationen bleiben jedoch bemerkenswert flexibel.
§ 5 adressiert die kritische Frage von Wertgrenzen und Verfahren. Er legt fest, dass Kommunen ihre eigenen Grenzen für Direktvergaben festlegen müssen – dies schafft die erwartete „Flickenteppich"-Variation in NRW. Entscheidend erklärt er: „Das Vergabeverfahren kann frei gewählt werden". Dies eliminiert die traditionelle Priorität der öffentlichen Ausschreibung.
§§ 7–9 behandeln Eignung, Zuschlagskriterien und Bewertung. Sie verweisen auf §§ 123–124 GWB für Ausschlussgründe, erlauben Eigenerklärungen als ausreichenden Nachweis und etablieren die Vergabe an das „wirtschaftlichste Angebot". Dabei werden Qualität, Nachhaltigkeit, Zweckeignung, Lebenszykluskosten und Preis berücksichtigt. Dies verkörpert den „Schweizer Modell"-Ansatz, bei dem der niedrigste Preis nicht zwingend obsiegen muss.
§ 10 vereinfacht Fristen auf lediglich die Anforderung „angemessener" Zeiträume ohne feste Minima.
§ 15 enthält kritische Übergangsbestimmungen: 2025 begonnene Vergaben unter alten Regeln können unter diesen abgeschlossen werden. Neue Vergaben ab dem 1. Januar 2026 fallen jedoch unter den neuen Rahmen.
Die begleitenden Erläuterungen der Mustersatzung, etwa 20 Seiten, bieten detaillierte Kommentare zu jeder Bestimmung mit praktischer Anleitung und optionalen Formulierungen.
Multiple Anpassungsmöglichkeiten existieren:
- Unterschiedliche Schwellenwerte für zentrale Vergabestellen versus Fachbereiche
- Zusätzliche Verfahren wie wettbewerblicher Dialog oder Innovationspartnerschaften
- Bestimmungen für verpflichtende Rechnungsprüfungsbeteiligung gemäß § 104 GO NRW
- Ausschluss zusätzlicher Kategorien wie soziale Dienstleistungen
Kritischer Einblick: Rechtsexperten betonen, dass viele Anpassungen über interne Verwaltungsrichtlinien statt Satzungen umgesetzt werden sollten. Dies erhält organisatorische Flexibilität, da Satzungen formelle Ratsänderungsverfahren erfordern.
Zeitplan, Übergangsherausforderungen und dringender Umsetzungsbedarf
Der Reformzeitplan offenbart beträchtliche Übergangsherausforderungen. Nach Kabinettszustimmung am 11. Februar 2025 und Einreichung beim Landtag am 13. Februar durchlief das Gesetz:
- Erste Lesung am 22. Mai
- Expertenanhörung am 23. Juni
- Endgültige Verabschiedung am 9. Juli 2025
- Inkrafttreten am 10. Juli
- Veröffentlichung am 16. Juli 2025
Das kritische Inkrafttretensdatum ist der 1. Januar 2026 – zum Zeitpunkt der Artikelerstellung nur noch 45 Tage entfernt.
Das Timing schafft schwerwiegende praktische Probleme. Die NRW-Kommunalwahlen fanden am 14. September 2025 statt, mit Ratskonstituierungen im Herbst 2025. Dies bedeutet, dass die meisten neu gewählten Räte der Kommunen erstmals Ende September oder Oktober 2025 tagten. Das lässt minimale Zeit, um:
- Den neuen Rechtsrahmen zu studieren
- Die Mustersatzung zu prüfen
- Lokale Anpassungen zu debattieren
- Vergabesatzungen per Ratsbeschluss vor Jahresende zu verabschieden
Mehrere Rechtsexperten prognostizieren, dass viele – vielleicht die meisten – Kommunen das Jahr 2026 ohne verabschiedete Vergabevorschriften beginnen werden.
Für Kommunen, die ab dem 1. Januar 2026 ohne Satzungen arbeiten:
- Sie dürfen UVgO oder VOB/A nicht anwenden, da diese keine rechtliche Bindungskraft mehr besitzen
- Sie müssen sicherstellen, dass jede einzelne Vergabe den fünf allgemeinen Prinzipien entspricht – ohne definierte Verfahren als Leitfaden
- Sie unterliegen keinen Wertgrenzen (direkte Verhandlungen werden theoretisch bis zu den EU-Schwellenwerten möglich, erfordern allerdings sorgfältige Rechtfertigung)
- Die Dokumentationslast steigt tatsächlich, da jede Entscheidung die Einhaltung von Transparenz- und Gleichbehandlungsprinzipien ohne verfahrensrechtliche Rückfallebenen nachweisen muss
- Das Rechtsrisiko intensiviert sich angesichts des unerprobten Rahmens ohne Rechtsprechungsanleitung
Von Experten empfohlene Übergangsstrategien:
Kommunen sollten:
- Sofort alle internen Richtlinien inventarisieren, die auf UVgO/VOB/A verweisen und am 1. Januar 2026 automatisch ihre Gültigkeit verlieren
- Dringend politische Entscheidungen herbeiführen – Räte müssen entscheiden, ob sie die Mustersatzung übernehmen, eine eigene Satzung schaffen oder ohne Satzung arbeiten
- Mitarbeiterschulung als kritisch betrachten, da Vergabepersonal von der Befolgung detaillierter Verfahren zur Anwendung abstrakter Prinzipien wechseln muss
- Systemanpassungen vornehmen: Konfiguration von Vergabemanagementsoftware, Aktualisierung von Vorlagen und Formularen sowie Modifikation von Workflow-Automatisierungen
Der Runderlass MHKBD (Ministerialer Runderlass, der bisherige Vergaberegeln regelt) läuft explizit am 31. Dezember 2025 aus und lässt keine Rückfallposition. Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung (MHKBD) hat eine Handreichung veröffentlicht, die typische Vergabe-Workflows unter § 75a, Dokumentationsanforderungen und häufig gestellte Fragen abdeckt. Dies bietet jedoch einen allgemeinen Rahmen statt verbindlicher Regeln.
Andere rechtliche Anforderungen bleiben von § 75a unberührt:
- Das Tariftreue- und Vergabegesetz NRW gilt weiterhin ab 25.000 € mit Anforderungen an faire Lohnbestimmungen
- Das Wettbewerbsregistergesetz schreibt Wettbewerbsregisterprüfung für Aufträge ≥ 30.000 € vor
- Das Korruptionsbekämpfungsgesetz NRW verlangt das „Vieraugenprinzip" für Vergaben über 500 €, das die Genehmigung durch zwei Beamte vorschreibt
- Vergaben mit öffentlicher Förderung können zusätzlichen Anforderungen unterliegen, die durch Förderbedingungen auferlegt werden und oft UVgO/VOB/A-Konformität unabhängig von Landesgesetzesänderungen verlangen
Chancen für Kommunen im Gleichgewicht mit beträchtlichen Risiken
Die Reform schafft substanzielle Chancen:
Administrative Effizienzgewinne umfassen:
- Reduzierte Dokumentationslast im Vergleich zu UVgO/VOB/A-Anforderungen
- Schnellere Vergabeprozesse ohne verpflichtende Mindestfristen
- Flexible Verfahrensauswahl zugeschnitten auf spezifische Bedürfnisse
- Eliminierung verfahrensbedingt erforderlicher Verzögerungen
Vorteile lokaler Anpassung ermöglichen:
- Regeln, die lokale Marktbedingungen widerspiegeln
- Integration mit bestehenden kommunalen Strukturen
- Flexibilität für Krisensituationen wie Naturkatastrophen oder Notunterbringungsbedarf
Strategische Vergabevorteile entstehen durch:
- Leichtere Implementierung von Nachhaltigkeitskriterien
- Qualitätsfokussierte Bewertung jenseits des niedrigsten Preises
- Innovationspartnerschaften und leistungsbasierte Verträge
Ministerin Ina Scharrenbach (CDU, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung) beschrieb die Reform als „deutlicher Beitrag zum Bürokratieabbau". Sie betonte, dass Kommunen dieselbe Flexibilität erhalten, die ihre Tochtergesellschaften lange genießen. Die Expertenanhörung am 23. Juni 2025 vor dem Landtagsausschuss zeigte breite parteiübergreifende Unterstützung für Modernisierungs- und Flexibilisierungsziele.
Jedoch begleiten beträchtliche Risiken diese Chancen:
Rechtsunsicherheit dominiert die Bedenken:
- Keine etablierte Rechtsprechung interpretiert § 75a GO NRW
- Mehrdeutigkeit darüber, welche Transparenz und Gleichbehandlung angemessen sind
- Die Eliminierung verfahrensrechtlicher Rückfallebenen bedeutet, dass Kommunen als „Versuchskaninchen" bei der Praxisentwicklung fungieren
- Bird & Bird Rechtsanwälte warnen, dass „unbestimmte Verpflichtungen zu ‚Gleichbehandlung und Transparenz' unterschiedlich interpretiert werden könnten, was Rechtsstreitigkeiten durch erfolglose Bieter begünstigt"
- Die abstrakte Formulierung erhöht Risiken der Verletzung von Art. 3 GG (verfassungsrechtliches Gleichbehandlungsprinzip) durch willkürliche oder unbewusste Bevorzugung
Fragmentierungsbedenken entstehen aus:
- Potenzial für bis zu 396 verschiedene kommunale Vergaberegime
- Komplexität für Unternehmen, die über mehrere Kommunen hinweg tätig sind
- Verlust einheitlicher Standards, die historisch Rechtssicherheit boten
Rechenschaftsherausforderungen umfassen:
- Reduzierte Verfahrensgarantien
- Größerer Ermessensspielraum ohne klare Grenzen
- Potenzial für willkürliche Entscheidungen
Kapazitätsprobleme betreffen besonders:
- Kleinere Kommunen, denen Expertise fehlt, um angemessene Verfahren zu entwickeln
- Politische Räte ohne technisches Verständnis, um effektive Satzungen zu verabschieden
Aufsichtskomplikationen entstehen, da:
- Prüfbehörden einheitliche Standards für die Überprüfung fehlen
- Inkonsistente Überwachung über Kommunen hinweg entsteht
Dr. Teubers Analyse vom 16. Oktober 2025 betont: „Es bietet die Chance, Bürokratie abzubauen und kommunale Vergaben flexibler zu gestalten. Gleichzeitig schafft es beträchtliche Rechtsunsicherheit." Diese ausgewogene Bewertung spiegelt breiten Expertenkonsens wider – die Reform schafft echte Chancen, erfordert aber sorgfältige Umsetzung und anspruchsvolles Management, um signifikante Fallstricke zu vermeiden.
Kritische Implikationen für Unternehmen in der öffentlichen Auftragsvergabe
Für Unternehmen, die auf kommunale Aufträge bieten, schafft § 75a GO NRW eine fundamental transformierte Wettbewerbslandschaft.
Das Ende der Standardisierung bedeutet:
- Unternehmen können sich nicht mehr auf einheitliche Verfahren in allen NRW-Kommunen verlassen
- Jede Kommune kann unterschiedliche Vergabevorschriften etablieren und einen komplexen „Flickenteppich" variierender Anforderungen schaffen
- Unternehmen, die über mehrere Kommunen hinweg operieren, stehen vor höheren Transaktionskosten beim Verstehen und Einhalten verschiedener Satzungen
- Erhöhte Komplexität bei der Angebotsvorbereitung ohne standardisierte Prozesse
- Bedarf an kommunenspezifischen Compliance-Systemen
Dokumentations- und Transparenzanforderungen verschieben sich dramatisch:
Kommunen müssen dokumentieren, wie Vergabeentscheidungen den fünf grundlegenden Prinzipien entsprechen. Spezifische Dokumentationsanforderungen sind jedoch nicht mehr durch Landesrecht vorgeschrieben. Die Mustersatzung verlangt nur „fortlaufende Dokumentation in Textform" ohne detaillierte Spezifikationen zu Format, Umfang oder Inhalt – eine deutliche Abkehr von umfassenden Anforderungen nach UVgO § 6 und VOB/A § 20.
Dies bedeutet reduzierte Transparenz für Unternehmen:
- Weniger detaillierte Dokumentation bietet weniger Einblick in Vergabeentscheidungen
- Erschwert die Anfechtung fragwürdiger Vergaben
- Kommunale Dokumentationspraktiken werden stark variieren
- Unternehmen erhalten möglicherweise weniger detaillierte Erklärungen für Angebotsablehnungen
Keine verpflichtenden Veröffentlichungsschwellen existieren unterhalb der EU-Grenzen, es sei denn, kommunale Satzungen spezifizieren dies. Kommunen können elektronische Plattformen wählen, unterliegen aber keiner Anforderung. Dies schafft reale Risiken, dass Vergabemöglichkeiten möglicherweise nicht öffentlich ausgeschrieben werden.
Unternehmen müssen sich anpassen durch:
- Aktive Überwachung einzelner kommunaler Websites und Vergabeplattformen
- Aufbau direkter Beziehungen zu Kommunen
- Registrierung bei kommunalen Lieferantenlisten, wo verfügbar
Vergabeverfahrensauswirkungen variieren nach Typ:
Direktvergabe (Direktauftrag) erfährt deutlich erweiterte Nutzung. Kommunen legen ihre eigenen Wertgrenzen fest oder verwenden gar keine Schwellen. Einige Kommunen könnten Direktvergabe bis 100.000 € erlauben, während andere sie nur bis 10.000 € gestatten – extreme Variation entsteht.
Offene Verfahren (Öffentliche Ausschreibung), bisher der Standard, werden optional. Eine reduzierte Nutzung unterhalb der EU-Schwellenwerte wird aufgrund administrativer Belastung erwartet.
Beschränkte Verfahren und Verhandlungsvergaben erhalten flexible Anwendung ohne vordefinierte Wertgrenzen oder spezifische Rechtfertigungsanforderungen. Dies erhöht Möglichkeiten für nicht-transparente Verhandlungen, die möglicherweise bestimmte Lieferanten bevorzugen.
Das „Schweizer Modell" verändert die Wettbewerbsdynamik:
Die Vergabe erfolgt an das „wirtschaftlichste Angebot" statt automatisch an den niedrigsten Preis. Dabei werden explizit berücksichtigt:
- Qualität
- Nachhaltigkeit
- Zweckeignung
- Lebenszykluskosten
- Preis
Kommunen bestimmen Gewichtung und Bewertungsmethodik nach eigenem Ermessen ohne vorgeschriebene Rahmenwerke.
Angebotsstrategien müssen sich verschieben:
- Von preis- zu wertfokussierten Angeboten
- Umfassende Wertversprechen entwickeln, die Qualitätsvorteile hervorheben
- Lebenszykluskosten-Einsparungen dokumentieren
- Nachhaltigkeitsnachweise demonstrieren
- Starke Referenzen und Fallstudien bereitstellen
Eignungsanforderungen vereinfachen sich verfahrensrechtlich, behalten aber inhaltliche Standards bei:
- Die Mustersatzung verweist auf §§ 123–124 GWB für Ausschlussgründe und Eignungskriterien
- Eigenerklärungen genügen generell
- Detaillierte Nachweisdokumente sind nur von bestplatzierten oder erfolgreichen Bietern erforderlich
- Dies reduziert die Vorab-Dokumentationslast
- Erfordert aber Bereitschaft, Nachweise schnell bereitzustellen, wenn angefordert
Diskriminierungs- und Bevorzugungsrisiken steigen ohne klare Verfahrensregeln:
- Lokale Präferenz kann entstehen und nicht-lokale Unternehmen benachteiligen
- Reduzierte Transparenz macht willkürliche Entscheidungen schwerer zu erkennen und anzufechten
- Rechtliche Herausforderungen werden schwieriger, da Verletzungen allgemeiner Prinzipien schwerer zu beweisen sind als Verletzungen spezifischer Verfahrensregeln
- Die höhere Hürde für erfolgreiche Anfechtungen bedeutet, dass Unternehmen fragwürdige Praktiken eher tolerieren könnten als unsichere Prozessergebnisse zu riskieren
Praktische Anleitung für Unternehmen:
- Identifizieren Sie sofort, welche NRW-Kommunen relevante Märkte darstellen und verfolgen Sie, welche vor dem 1. Januar 2026 Satzungen verabschieden
- Studieren Sie die Mustersatzung, auch wenn eine Kommune sie nicht formell übernimmt, da viele sie als informelle Leitlinie verwenden werden
- Führen Sie gründliche Dokumentation aller Angebotseinreichungen, Kommunikationen mit Auftraggebern und Nachweise jeglicher Diskriminierung
- Entwickeln Sie kommunenspezifische Checklisten und Compliance-Systeme
- Budgetieren Sie erhöhte Compliance-Kosten angesichts der Fragmentierung
- Erwägen Sie lokale Partnerschaften oder Präsenz in Schlüsselmärkten, um mit lokalen Präferenztrends zu konkurrieren
Für kleinere, lokale Unternehmen entstehen Chancen durch:
- Vereinfachte Verfahren, die Eintrittsbarrieren reduzieren
- Weniger Dokumentationslast
- Schnellere Entscheidungsprozesse
- Potenzielle Präferenz für regionale Lieferanten
- Direktvergabe, die den Marktzugang erhöht
Die Strategie sollte umfassen:
- Betonung lokaler Referenzen
- Aufbau direkter Beziehungen zu Vergabebeamten
- Schnelle Reaktion auf informelle Anfragen
- Flexiblen, reaktionsschnellen Service
Für größere, nicht-lokale Unternehmen umfassen Herausforderungen:
- Potenzielle lokale Präferenz
- Multiple Compliance-Systeme
- Höhere Transaktionskosten
Die Strategie erfordert:
- Entwicklung standardisierter, aber flexibler Angebotssysteme
- Etablierung lokaler Partnerschaften oder Tochtergesellschaften in NRW
- Betonung spezialisierter Fähigkeiten, die Kommunen nicht lokal beschaffen können
- Demonstration von Wert jenseits des Preises
- Sorgfältige Überwachung auf Diskriminierung, um bei Notwendigkeit anzufechten
Wie sich verschiedene Vergabeverfahren grundlegend ändern
Unter dem bisherigen Rahmenwerk folgten Vergabeverfahren einer strengen Hierarchie:
- Öffentliche Ausschreibung war das Standardverfahren für Bauleistungen über 15.000 € und Liefer-/Dienstleistungen über bestimmten Schwellen
- Beschränkte Ausschreibung erforderte spezifische Rechtfertigung
- Verhandlungsvergaben waren Ausnahmen, die dokumentierte Gründe erforderten
- Direktvergaben unterlagen strengen Wertgrenzen, typischerweise 5.000 € bis 25.000 €
Dies schuf Vorhersehbarkeit – sowohl Unternehmen als auch Kommunen verstanden, wann jedes Verfahren anzuwenden war.
§ 75a GO NRW eliminiert diese gesamte Struktur. § 5 der Mustersatzung erklärt: „Das Vergabeverfahren kann frei gewählt werden."
- Keine Hierarchie existiert
- Kein Standardverfahren
- Keine verpflichtende Rechtfertigung für die Verfahrensauswahl
Kommunen müssen nur sicherstellen, dass ihre Wahl mit den Prinzipien Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit übereinstimmt. Dies repräsentiert einen noch nie dagewesenen Ermessensspielraum im deutschen kommunalen Vergaberecht.
Wertgrenzen variieren nach Kommune und schaffen den „Flickenteppich"-Effekt, vor dem Experten warnen:
- Bayern, das UVgO/VOB/A beibehält, setzte einheitliche Schwellenwerte von 250.000 € für Bauleistungen und 100.000 € für Liefer-/Dienstleistungen für Direktvergaben fest
- Baden-Württemberg übernahm 100.000 € für beide Kategorien
- Unter § 75a könnte eine NRW-Kommune Direktvergaben bis 5.000 € erlauben, während eine andere sie bis 150.000 € gestattet
- Keine Standardisierung existiert
- Unternehmen können basierend auf dem Auftragswert nicht vorhersagen, welches Verfahren eine Kommune verwenden wird
Verfahrenstypen behalten vertraute Namen, funktionieren aber anders:
- Offene Verfahren erhalten keinen Prioritätsstatus mehr – Kommunen verwenden sie nur, wenn administrativ zweckmäßig oder politisch bevorzugt
- Beschränkte Verfahren können bei jedem Wert ohne Mindestbieteranforderungen verwendet werden
- Verhandlungsvergaben werden zu Routinewerkzeugen statt Ausnahmen
- Direktvergabe expandiert dramatisch als effizientester Ansatz für viele unterschwellige Aufträge
Die Transparenz- und Gleichbehandlungsprinzipien beschränken Wahlmöglichkeiten theoretisch, aber ihnen fehlen die konkreten verfahrensrechtlichen Mechanismen, die UVgO/VOB/A boten.
Dokumentationsanforderungen kontrastieren scharf:
Früher schrieb UVgO § 6 einen detaillierten Vergabevermerk vor, der dokumentierte:
- Verfahrenstypauswahl-Rechtfertigung
- Spezifikationen der Zuschlagskriterien mit präziser Gewichtung
- Dokumentation erhaltener Angebote mit vergleichender Bewertung
- Detaillierte Gründe für Gewinnerauswahl
- Erklärung abgelehnter Angebote
VOB/A § 20 legte ähnlich umfassende Anforderungen für Bauleistungen fest. Die Mustersatzung verlangt nur „fortlaufende Dokumentation in Textform" ohne Angabe von Inhalt, Format oder Umfang – dies lässt den Kommunen breiten Ermessensspielraum.
Zeitlinienflexibilität steigt deutlich:
UVgO und VOB/A schrieben Mindestfristperioden vor:
- Typischerweise 30–52 Tage für offene Verfahren
- 15–30 Tage für beschränkte Verfahren
- Spezifische Zeitrahmen für Fragen und Klarstellungen
Die Mustersatzung verlangt nur „angemessene Fristsetzung" ohne feste Minima. Was „angemessen" ist, hängt von Komplexität, Marktbedingungen und Bieterbedürfnissen ab – dies schafft fallweise Bestimmung ohne standardisierte Benchmarks.
Grenzüberschreitende Interessenbewertung (Binnenmarktrelevanz) bleibt verpflichtend als EU-Primärrechtsverpflichtung unabhängig von § 75a. Kommunen müssen bewerten, ob jede Vergabe potenzielles grenzüberschreitendes Interesse anzieht basierend auf:
- Auftragswert
- Geografischer Lage
- Gegenstandscharakteristika
- Relevantem Markt/Sektor
Falls binnenmarktrelevant, wird EU-weite Veröffentlichung erforderlich und EU-Vertragsprinzipien gelten vollständig auch unterhalb der EU-Schwellenwerte. Dies schafft eine kritische Ausnahme zur kommunalen Flexibilität – Fehleinschätzung grenzüberschreitenden Interesses riskiert EU-Rechtsverletzungen und potenzielle Vertragsverletzungsverfahren.
Für Unternehmen bedeutet Verfahrensunsicherheit:
- Sie können nicht vorhersagen, welches Verfahren basierend auf Auftragswert oder -typ verwendet wird
- Sie müssen sich auf Möglichkeit direkter Verhandlung auch für substanzielle Aufträge vorbereiten
- Sie benötigen Flexibilität, um schnell auf variierende Verfahren zu reagieren
- Sie sollten Beziehungen pflegen, die Bewusstsein für bevorstehende Direktvergaben ermöglichen
- Sie müssen Angebotsstrategien an verwendete Verfahrenstypen anpassen statt standardisierte Ansätze zu erwarten
NRWs einzigartige Position: Vergleich mit anderen Bundesländern
NRWs Ansatz ist im deutschen Verwaltungsrecht wirklich einzigartig. Während mehrere Bundesländer Wertgrenzen für unterschwellige Vergaben angehoben haben, eliminiert allein NRW verbindliche Verfahrensanforderungen vollständig.
Bayern erlaubt Direktvergaben bis 100.000 € (Liefer-/Dienstleistungen) und 250.000 € (Bauleistungen), behält aber verpflichtende UVgO- und VOB/A-Anwendung oberhalb dieser Schwellen mit detaillierten Verfahrensregeln bei.
Baden-Württemberg gestattet Direktvergaben bis 100.000 € für Kommunen, während UVgO/VOB/A für höhere Werte beibehalten wird.
Brandenburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt hoben ähnlich spezifische Schwellen an, während detaillierte Bundesvorschriften verbindlich bleiben.
Der Kontrast ist fundamental: Andere Bundesländer haben angepasst, wann detaillierte Verfahren gelten (Schwellen anhebend), aber diese Verfahren bleiben oberhalb der Schwellen verpflichtend. NRW hat die Verfahren selbst unterhalb der EU-Grenzen eliminiert und sie durch abstrakte Prinzipien ersetzt.
15 von 16 Bundesländern haben UVgO implementiert, wobei nur Sachsen noch hauptsächlich auf die ältere VOL/A verweist. Jedes Bundesland hat Modifikationen vorgenommen, aber Modifikationen betreffen E-Vergabe-Schwellen, spezifische Wertgrenzen oder Verfahrensanpassungen – nicht die vollständige Eliminierung.
Die Bundesebene beobachtet genau: Bundesweite UVgO-Schwellen stehen vor Anhebung auf 50.000 € für Liefer- und Dienstleistungen, aber dies behält detaillierte Verfahren oberhalb dieser Schwelle bei. NRWs Experiment könnte Bundesdebatten über Vergabevereinfachung beeinflussen, könnte aber auch als abschreckendes Beispiel dienen, wenn Umsetzungsprobleme entstehen. Das Bundeskartellamt und relevante Ministerien überwachen auf wettbewerbsrechtliche Implikationen.
Rechtsexperten charakterisieren NRWs Ansatz als:
- „Einzigartig" laut BHO-Legal
- „Radikale Deregulierung" und „Paradigmenwechsel"
- Dr. Teuber bemerkt, NRW „testet, ob abstrakte verfassungsrechtliche Prinzipien für faire, effiziente Vergabe ausreichen" – ein Experiment ohne Präzedenz in der deutschen Verwaltungstradition, die typischerweise detaillierte Regulierung gegenüber prinzipienbasierten Rahmenwerken bevorzugt
Was andere Bundesländer beibehalten, das NRW eliminiert:
Andere Bundesländer
NRW ab 1.1.2026
Einheitliche landesweit festgelegte Wertgrenzen
Jede der 396 Kommunen legt eigene fest
Verfahrenshierarchien mit öffentlicher Ausschreibung als Standard
Vollständige Verfahrensfreiheit
Detaillierte Dokumentationsanforderungen
Allgemeine Klauseln
Einheitliche Umsetzung über Kommunen hinweg
Potenziell 396 verschiedene Regime
Bundesebenen-Leitfaden durch verbindliche UVgO/VOB/A
Verlässt sich allein auf verfassungsrechtliche und EU-Prinzipien
Internationale Parallelen sind begrenzt: Die Reform bezieht Inspiration vom „Schweizer Modell", wo das wirtschaftlichste Angebot (nicht niedrigster Preis) Berücksichtigung von Qualität, Nachhaltigkeit und Lebenszykluskosten gewinnt. Jedoch bietet das Schweizer Vergaberecht immer noch konkretere Anleitung als § 75as abstrakte Prinzipien. NRWs Ansatz geht über Schweizer Präzedenz hinaus bei der Eliminierung detaillierter Verfahren.
Die breitere deutsche Vergabeevolution zeigt einige gemeinsame Trends:
- Vereinfachungsbemühungen über mehrere Bundesländer hinweg
- Digitale Transformation mit E-Vergabe-Standardisierung
- Nachhaltigkeitsintegration mit Betonung ökologischer und sozialer Kriterien
- Professionalisierung mit erhöhtem Fokus auf Vergabekompetenz
- Gewisse Zentralisierung durch zentrale Vergabestellen
NRW partizipiert an diesen Trends, während es einen einzigartig radikalen strukturellen Ansatz verfolgt.
Experten-Rechtsmeinungen: Chance trifft Unsicherheit
Rechtsprofis in ganz Deutschland haben § 75a GO NRW mit bemerkenswert konsistenten Bewertungen analysiert, die Chancen und Risiken abwägen.
Dr. Christian Teubers umfassende Analyse im vergabeblog.de vom 16. Oktober 2025 bietet die detaillierteste Expertenevaluation. Als Partner bei Baker Tilly, der deren Vergaberechtsdivision mit 20 Jahren Erfahrung leitet und Regionalgruppenvorsitzender DVNW Dortmund ist, charakterisiert Dr. Teuber § 75a als „ein Experiment mit offenem Ausgang". Er beschreibt einen „bewussten Systemwechsel" von detaillierter Regulierung zu offenem Rahmenwerk kommunaler Eigenverantwortung.
Seine kritische Einsicht: Die Gesetzesmaterialien setzen explizit „auf Null zurück" alle bisherigen kommunalen Vergabevorschriften. Kommunen, die untätig bleiben, „dürfen sich nicht mehr auf die Fortgeltung alter Regelungen verlassen." Dies schafft, was er als „beträchtliche Rechtsunsicherheit" während des Übergangs bezeichnet, verschärft durch Kommunalwahlen, die neu konstituierten Räten minimale Zeit lassen, Satzungen vor dem 1. Januar 2026 zu verabschieden.
Sein Vergleich der Mustersatzung mit UVgO/VOB/A hebt Schlüsselunterschiede hervor:
- Wertgrenzen werden kommunenspezifischer „Flickenteppich"
- Freie Verfahrenswahl kehrt traditionelle Priorität öffentlicher Ausschreibung um
- Dokumentation reduziert sich von detaillierten Anforderungen auf allgemeine Klauseln
Bird & Bird Rechtsanwälte warnen vor verfassungsrechtlichen Bedenken unter Art. 3 GG. Die „unbestimmte Verpflichtung zu ‚Gleichbehandlung und Transparenz' könnte unterschiedlich interpretiert werden, was Rechtsstreitigkeiten durch erfolglose Bieter begünstigt."
Sie identifizieren Risiken:
- Willkürliche oder diskriminierende Entscheidungen durch Bevorzugung ohne transparente Rechtfertigung
- Verfahrensunsicherheit, die möglicherweise zu unterschiedlichen Interpretationen über Kommunen hinweg führt
Ihre Bewertung betont erhöhtes Prozessrisiko aus abstrakten Formulierungen, erkennt aber Chancen für Krisenbeschleunigung und lokale Anpassung an.
Optiso-Consult beschreibt § 75a als Markierung eines „Systemwechsels: von detailliert geregeltem Vergaberecht zu einem offenen Regelungsrahmen kommunaler Eigenverantwortung." Sie betonen, die Mustersatzung sei „kein verbindliches Muster, sondern vielmehr ein Werkzeugkasten", der Übernahme, Anpassung oder Ersetzung erlaubt.
Ihre praktische Anleitung betont Dokumentation – „jede Vergabeentscheidung sollte begründet werden" – und bemerkt, dass faktische Orientierung an UVgO/VOB/A zulässig bleibt, „solange deutlich bleibt, dass sie keine Rechtswirkung haben." Sie warnen: „Wer untätig bleibt, riskiert Chaos und Intransparenz."
CBH Rechtsanwälte nehmen eine kritischere Perspektive zur einfachen unveränderten Übernahme der Mustersatzung ein. Sie argumentieren, „Abweichungen in einzelnen Punkten oder völlig andere Gestaltung sind ausdrücklich zulässig" und hinterfragen, ob „vollständige Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Verfahrensarten" wirklich zur Vereinfachung in der Praxis beiträgt. Sie behaupten, „deutlich größere Spielräume für Vereinfachungen und Bürokratieabbau" existieren, als die Mustersatzung ausschöpft, und empfehlen individuelle Unterstützung für Kommunen bei der Entwicklung geeigneter Regelungen.
BHO-Legal bietet statistischen Kontext: NRWs Vergabestatistik 2023 zeigt 23.587 initiierte Verfahren, davon 21.488 (91 %) unterschwellig, die 47,3 % der Auftragswerte repräsentieren. Sie charakterisieren § 75a als „einzigartig" und einen „radikalen Deregulierungsschritt", der einen „bewussten Systemwechsel in NRW" darstellt. Sie bemerken, die Reform ziele genau auf den hochvolumigen Verwaltungssektor, während sie anerkennen, es sei „ein Bereich, in dem deutlicher Verwaltungsaufwand auftritt, obwohl knapp die Hälfte der finanziellen Volumina betroffen sind."
RSM Ebner Stolz äußert Bedenken über die „allgemein gehaltene Formulierung der Vorschrift", die möglicherweise dazu führt, dass Kommunen „zu unterschiedlichen Interpretationen und Anwendungen einzelner Kriterien" gelangen, was „willkürliche und diskriminierende Vergabeentscheidungen – bewusst oder unbewusst" riskiert. Sie warnen, dass „ohne verbindliche Vergabevorgaben und Konkretisierungen auch die Hürde steigt, komplexen vergaberechtlichen Besonderheiten gerecht zu werden."
Konsens unter Experten entsteht zu mehreren Punkten:
- Dies repräsentiert einen fundamentalen Paradigmenwechsel, keine inkrementelle Reform
- Es schafft sowohl signifikante Chancen als auch ernsthafte Risiken
- Rechtsunsicherheit wird anfänglich substanziell sein, besonders während der Übergangsperiode
- Erfolg hängt kritisch von kommunalen Umsetzungsentscheidungen ab – ob sie Satzungen verabschieden, welche Satzungen und wie sie diese anwenden
- Dokumentation wird für rechtliche Verteidigung wesentlich sein angesichts der Abwesenheit verfahrensrechtlicher Rückfallebenen
- Die nächsten 2–3 Jahre werden experimentell und herausfordernd sein, während sich Praxis entwickelt und Gerichte beginnen, die abstrakten Prinzipien zu interpretieren
Meinungsverschiedenheit existiert darüber:
- Ob Vorteile Risiken überwiegen (Optimisten versus Skeptiker)
- Ob Kommunen die Mustersatzung übernehmen oder darüber hinaus innovieren sollten
- Wie ernst Korruptions- und Bevorzugungsrisiken wirklich sind
- Ob andere Bundesländer NRWs Pfad folgen oder vermeiden sollten
Diese echte Teilung unter erfahrenen Vergaberechtsprofis unterstreicht, dass § 75a ein wahres Experiment ist, dessen Ergebnisse unsicher bleiben.
Verfassungsrechtliche und EU-rechtliche Dimensionen erhalten deutliche Expertenaufmerksamkeit:
- Alle stimmen zu, dass Art. 3 GG (Gleichbehandlung) vollständig verbindlich bleibt, was Spannung zwischen kommunaler Flexibilität und verfassungsrechtlichen Anforderungen schafft
- EU-Vertragsprinzipien gelten für alle Vergaben mit grenzüberschreitendem Interesse unabhängig vom Wert, was eine weitere Beschränkung kommunalen Ermessens schafft
- Die Beziehung zwischen abstrakten § 75a-Prinzipien und konkreten verfassungsrechtlichen/EU-Verpflichtungen wird durch Rechtsstreitigkeiten getestet werden und möglicherweise höhere Gerichte für definitive Interpretation erreichen
Fünf Schlüsselfakten für Unternehmen in der öffentlichen Auftragsvergabe
Für Unternehmen, die an kommunalen Vergaben in NRW teilnehmen, sollten fünf kritische Fakten strategische Planung und operative Anpassung vorantreiben:
1. Der 396-Kommunen-Flickenteppich beginnt am 1. Januar 2026
Standardisierte Vergaberegeln verschwinden, ersetzt durch potenziell hunderte verschiedener kommunaler Ansätze. Jede Kommune kann eigene Regelungen durch Satzung verabschieden, die Mustersatzung verwenden oder ohne jede Satzung arbeiten und sich allein auf abstrakte Prinzipien verlassen.
Wertgrenzen für Direktvergaben, Verfahrensauswahlkriterien, Dokumentationsanforderungen und Bewertungsmethodiken werden dramatisch über NRW variieren. Unternehmen müssen jede Zielkommune individuell überwachen, kommunenspezifische Compliance-Systeme entwickeln und Erwartungen einheitlicher Standards aufgeben.
Die Übergangsperiode (Q1–Q2 2026) wird maximale Unsicherheit aufweisen, während Kommunen variierende Ansätze implementieren.
2. Konkurrieren Sie mit Wert, nicht nur Preis – das „Schweizer Modell" ersetzt Niedrigstpreiszuschläge
Das fundamentale Zuschlagskriterium verschiebt sich vom niedrigsten Preis zum „wirtschaftlichsten Angebot" unter Berücksichtigung von Qualität, Nachhaltigkeit, Zweckeignung, Lebenszykluskosten und Preis. Kommunen bestimmen Gewichtung und Bewertungsmethodik nach eigenem Ermessen ohne vorgeschriebene Rahmenwerke.
Erfolgreiche Angebotsstrategien müssen umfassende Wertversprechen entwickeln, die:
- Qualitätsvorteile hervorheben
- Lebenszykluskosten-Einsparungen demonstrieren
- Nachhaltigkeitsnachweise dokumentieren
- Starke Referenzen bereitstellen
Unternehmen, die rein über Preis konkurrieren, benachteiligen sich unter dem neuen Rahmenwerk. Technische Expertise, Zuverlässigkeit und langfristiger Wert werden zu Wettbewerbsdifferenzierern.
3. Transparenz und Dokumentation nehmen dramatisch ab – proaktiver Beziehungsaufbau wird essenziell
Keine verpflichtenden Veröffentlichungsschwellen existieren unterhalb der EU-Grenzen, es sei denn, kommunale Satzungen spezifizieren dies. Kommunen können elektronische Plattformen optional nutzen, unterliegen aber keiner Anforderung.
Dokumentationsanforderungen reduzieren sich von detaillierten UVgO/VOB/A-Standards auf allgemeine „Textform" ohne Inhaltsspezifikationen. Dies bedeutet, dass Vergabemöglichkeiten möglicherweise nicht öffentlich ausgeschrieben werden, was passive Überwachung unzureichend macht.
Unternehmen müssen:
- Aktiv einzelne kommunale Websites überwachen
- Direkte Beziehungen zu Vergabebeamten aufbauen
- Sich bei kommunalen Lieferantenlisten registrieren
- Vergabe-Informationsveranstaltungen besuchen
- Lokale Partnerschaften oder Präsenz erwägen
Die Informationsasymmetrie verschiebt Vorteile zu Unternehmen mit starken kommunalen Beziehungen.
4. Direktvergabe expandiert massiv mit kommunal bestimmten Schwellen
Früher strikte Grenzen (typischerweise 5.000 € bis 25.000 €) weichen vollständigem kommunalem Ermessen. Einige Kommunen könnten Direktvergabe bis 100.000 € oder mehr erlauben, während andere niedrigere Schwellen beibehalten.
Unternehmen sollten:
- Identifizieren, welche Kommunen höhere Schwellen für Direktvergabe verabschieden
- Diese für beziehungsgetriebene Geschäftsentwicklung anvisieren
Die Expansion der Direktvergabe schafft Chancen besonders für lokale, kleinere Unternehmen, aber auch für jedes Unternehmen, das vertrauensvolle Beziehungen zu kommunalen Vergabebeamten etabliert. Das Verständnis des Ansatzes jeder Kommune zur Direktvergabe wird zu kritischer Wettbewerbsintelligenz.
5. Rechtliche Herausforderungen werden schwieriger, aber Gleichbehandlungsverletzungen bleiben klagbar
Ohne detaillierte Verfahrensregeln wird der Nachweis von Vergabeverletzungen schwieriger. Die höhere Hürde für erfolgreiche Anfechtungen bedeutet, dass Unternehmen fragwürdige Praktiken eher tolerieren könnten als unsichere Prozessergebnisse zu riskieren.
Jedoch bleiben Verletzungen verfassungsrechtlicher Gleichbehandlungsprinzipien (Art. 3 GG) klagbar. Unternehmen sollten:
- Akribische Dokumentation aller Angebotseinreichungen führen
- Kommunikationen mit Auftraggebern dokumentieren
- Potenzielle Diskriminierungsbeweise sammeln
Wenn klare willkürliche Entscheidungen oder Bevorzugung auftreten, bleiben Rechtsmittel durch Verwaltungsgerichte verfügbar. Diese erfordern aber stärkere Beweise für Prinzipienverletzungen statt Verfahrensfehlern. Erwägen Sie spezialisierten vergaberechtlichen Beistand für bedeutende Aufträge angesichts des neuartigen Rechtsrahmens.
Was Unternehmen jetzt tun sollten
Mit wenigen Wochen bis zur Umsetzung sollten Unternehmen sofortige konkrete Maßnahmen ergreifen:
Führen Sie kommunale Marktkartierung durch
- Identifizieren Sie, welche NRW-Kommunen relevante Märkte darstellen
- Verfolgen Sie, welche Vergabesatzungen verabschiedet haben (überwachen Sie kommunale Websites und Vergabeplattformen)
- Bewerten Sie, welche wahrscheinlich Mustersatzung versus eigene Ansätze versus keine Satzung übernehmen
- Dokumentieren Sie Erkenntnisse in einer strukturierten Datenbank zur fortlaufenden Referenz
Studieren Sie die Mustersatzung gründlich
- Auch für Kommunen, die sie nicht formell übernehmen, da viele sie als informelle Leitlinie verwenden werden
- Verstehen Sie ihre Struktur, Prinzipien und Flexibilitätsbestimmungen
- Identifizieren Sie, wie sie sich von UVgO/VOB/A in für Ihr Geschäft kritischen Bereichen unterscheidet: Verfahrensauswahl, Dokumentationsanforderungen, Zuschlagskriterien und Fristen
- Verwenden Sie dieses Verständnis als Basislinie zur Vorhersage kommunalen Verhaltens
Bewerten Sie Angebotsstrategien neu
- Verschieben Sie von preis- zu wertfokussierten Angeboten
- Entwickeln Sie standardisierte, aber flexible Wertversprechen-Rahmenwerke
- Erstellen Sie Vorlagen für Nachhaltigkeits- und Lebenszykluskosten-Dokumentation
- Bereiten Sie Referenzmaterialien und Fallstudien vor
- Schulen Sie Vertriebs- und Angebotsteams in den neuen Wettbewerbsdynamiken, die Qualität, Zuverlässigkeit und langfristigen Wert über niedrigsten Preis betonen
Stärken Sie kommunale Beziehungen
- Proaktive Kontaktaufnahme zu Vergabestellen in Zielkommunen
- Teilnahme an Vergabe-Informationsveranstaltungen und Branchentagen
- Registrierung bei Lieferantendatenbanken und Vergabeplattformen
- Klare Kommunikation von Fähigkeiten und Wertversprechen
In der neuen Umgebung mit reduzierten Transparenzanforderungen bieten vertrauensvolle Beziehungen Wettbewerbsvorteile.
Etablieren Sie Dokumentations- und Compliance-Systeme
- Führen Sie gründliche Aufzeichnungen aller Angebotseinreichungen und Ergebnisse
- Dokumentieren Sie Kommunikationen mit Auftraggebern
- Bewahren Sie Beweise potenzieller Diskriminierung oder willkürlicher Entscheidungen
- Erstellen Sie kommunenspezifische Compliance-Checklisten
- Budgetieren Sie erhöhte Compliance-Kosten angesichts der Fragmentierung über bis zu 396 potenzielle verschiedene Regime
Sichern Sie spezialisierten rechtlichen Beistand
- Identifizieren Sie Vergaberechtanwälte, die mit § 75a GO NRW vertraut sind
- Etablieren Sie Beziehungen für schnelle Beratung in ungewöhnlichen Situationen
- Erwägen Sie Pauschalvereinbarungen für bedeutende Vergabeaktivitäten
- Verstehen Sie, wann Anfechtungen lohnenswert sind versus Ergebnisse zu akzeptieren
Der neuartige Rechtsrahmen schafft höhere rechtliche Komplexität, die spezialisierte Expertise erfordert.
Überwachen Sie Entwicklungen kontinuierlich
- Verfolgen Sie kommunale Satzungsverabschiedungen während Q1 2026
- Folgen Sie entstehender Rechtsprechung, während Gerichte beginnen, abstrakte Prinzipien zu interpretieren
- Partizipieren Sie in Branchenverbänden und Handelskammern für geteilte Intelligenz
- Passen Sie Strategien basierend auf praktischer Erfahrung an
Die experimentelle Natur von § 75a bedeutet, dass sich die Landschaft durch 2026–2027 schnell entwickeln wird, während sich Praxis entwickelt.
Fazit
Für Unternehmen, die im kommunalen Vergabemarkt NRWs operieren, repräsentiert § 75a GO NRW die bedeutendste regulatorische Änderung seit Jahrzehnten. Die Verschiebung von detaillierten Regeln zu abstrakten Prinzipien, von standardisierten Verfahren zu kommunaler Autonomie und vom niedrigsten Preis zum wirtschaftlichen Wert schafft sowohl substanzielle Chancen als auch beträchtliche Unsicherheiten.
Erfolg erfordert:
- Strategische Anpassung
- Operative Flexibilität
- Starke Beziehungen
- Anspruchsvolles rechtliches Verständnis
Unternehmen, die sich gründlich vorbereiten und schnell anpassen, werden Wettbewerbsvorteile in der transformierten Vergabelandschaft gewinnen, die am 1. Januar 2026 entsteht.
Dieser Artikel dient ausschließlich der allgemeinen Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Trotz sorgfältiger Recherche übernehmen wir keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der bereitgestellten Informationen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen von § 75a GO NRW befinden sich in der Entwicklung, und die praktische Umsetzung kann von den hier dargestellten Informationen abweichen. Für rechtsverbindliche Auskünfte zu Ihrer spezifischen Situation konsultieren Sie bitte einen auf Vergaberecht spezialisierten Rechtsanwalt oder die zuständigen Behörden. Jegliche Haftung für Entscheidungen, die auf Grundlage dieses Artikels getroffen werden, wird ausgeschlossen.